Erinnerungen eines 70-Jährigen an seine Kinderjahre in Sylbitz und 'seine' Kirche  
 
von Klaus Hoffmann


Im Juli 1945 fand eine abenteuerliche Reise nach etwa 6 Monaten ihr Ende in Sylbitz.

Für meine liebe Mutter waren diese Wochen und Monate die bitterste Zeit ihres Lebens.

Für mich blieben nur spannende und schöne Erinnerungen zurück.

Ich war gerade 7 Jahre geworden, als die Reise im bitterkalten Januar 1945 in Kornfelde/Oberschlesien nahe der Grenze zu Polen mit einem Pferdewagen, gezogen von einem braunen und einem weißen Pferd, begann und etwa 380 km südwestlich, in der Nähe von Trautenau im damaligen Sudetengau erst einmal endete.
Sie führte uns, dass heißt unsere Familie mit Vater, Mutter und dreieinhalb Kindern, quer durch das Glatzer Bergland und das Riesengebirge in das hügelige Ostböhmen. Für Pferd und Wagen und Kutscher, die nur das Flachland kannten, ein kompliziertes Unternehmen.

Das Deutsche Reich benötigte alle noch brauchbaren Männer und Pferde für den Endsieg. So wurden Vater und die Pferde „eingezogen“. Sie kamen nicht wieder zurück.
Die Mutter und wir Kinder blieben allein bis zum Juni dort bei einheimischen Bauern einquartiert zurück.

Mit einem Handwagen zu Fuß und teilweise mit noch vorhandenen Eisenbahnen, dann mit dem Schiff auf der Elbe nach Dresden, nochmals im offenen Eisenbahnwaggon nach Halle und irgendwie dann nach Wallwitz landeten wir schließlich in einem Zimmer des Gutshauses des Rittergutes Nagel im etwa 80-Seelen zählenden Dorf Sylbitz.

Dort wurde das inzwischen komplette 4. Kind, unsere jüngste Schwester geboren und auf den Namen Eva in der Sylbitzer Kirche getauft.

Eine spannende Zeit für einen Jungen meines Alters begann.
Nicht alle Menschen in diesem Dorf waren von den Neuankömmlingen begeistert. Das kinderlose Pfarrerehepaar Sonntag trat uns von Anbeginn stets freundlich und liebevoll entgegen. Es half uns, in dem Dorf etwas heimisch zu werden.
Pfarrhaus, Kirche, die alte Schule, der Kolonialwarenladen und eine kleine Kneipe waren eine Gebäudegruppe, auf einem Hügel und im Zentrum des Dörfchen stehend. Dort konzentrierte sich erst einmal das abenteuerliche Tagesgeschehen für mich.
Außer der Gastwirtschaft hatte ich in den anderen Gebäuden „oft etwas zu tun“.

Eine wichtige Bezugsperson wurde für uns Geschwisterkinder, aber auch für einen großen Teil der Dorfkinder, Pfarrer Sonntag und seine Frau. Mit allen Kindern des Dorfes gestaltete er einen sehr interessanten und kindgerechten Religionsunterricht. Er las uns viel vor, auch außerhalb der Religionsstunden. Wir lernten Märchen- und Abenteuerbücher kennen.
Besonders aber fesselten uns die Geschichten über Jesus, und wir Jungs wollten so werden wie er. Er wurde so etwas wie ein Held, ein Vorbild für unser Verhalten. Nur gegen unsere Rüpelhaftigkeit hat es nicht geholfen. Aber neugierig, alles hinterfragend und kluge Reden haltend entwickelten wir uns und wussten damals oft mehr als unsere Lehrerin.

Zur Schule ging ich etwa 6 Monate in die alte Dorfschule, die neben dem Pfarrhaus stand. Im Wechsel hatten die Klassen 1-4 und 5-8, entweder vormittags oder nachmittags, zusammen in einem Raum Unterricht. Das war spannend, aber wenig effektiv. Nach diesen Monaten mussten wir täglich 2 km in die Schule nach Wallwitz laufen. Anfangs war eine Frau Schreier unsere Lehrerin. Die war sehr streng, musste aber bald zur „Entnazifizierung“. Was das war, wussten wir nicht. Aber eine ganz junge, und wir meinten auch schöne Neulehrerin übernahm unsere Klasse, und von ihr lernten wir u.a., dass es am Nordpol ganz schrecklich kalt war, am Südpol dagegen so heiß, dass man manchmal ohne Feuer auch kochen konnte.

Zurück zu unserer Schule in Sylbitz, neben der eine alte und sehr hohe Birke stand, in die bei einem schweren Gewitter ein Blitz einschlug, und sie danach mindesten um 3m kürzer gesägt wurde. Wir meinten, dass das eine falsche Entscheidung der Erwachsenen war, da nun das daneben stehende Pfarrhaus nicht mehr geschützt war. Trotz Schule waren Pfarrhaus und –hof mit Nebengelass für uns wichtiger als die Schule. Pfarrer Sonntag baute in den Sommermonaten im Hof seine große Kegelanlage auf. Dort verbrachten wir viele Stunden mit ihm, aber wir durften dann auch allein spielen. Er hatte eben großes Vertrauen zu uns. Das Versteckspiel in dem als ein verwunschener Garten bei mir in Erinnerung gebliebenen Gelände war stets spannend. Auch wenn hin und wieder „Nutzpflanzen“ beschädigt wurden, trugen das Für oder Wider unseres Spielens in diesem Garten der „Große und der Kleine Pfarrer“ unter sich aus.

Diese Namen vergab meine damals 6-jährige Schwester, die häufig in den Sylbitzer Jahren unsere Gänse hüten musste. Da beide Pfarrersleute das Fahrrad nutzten, um in die benachbarten Dörfer zu kommen, ermahnte sie den Herrn Pfarrer stets dann, wenn seine Frau schon bei ihr vorbei gefahren war, mit den Worten: „Herr Pfarrer, nun musst du dich aber beeilen, der kleine Pfarrer ist schon lange hier durchgefahren“.
Der „Kleine Pfarrer“ war für die Musik in der Kirche, aber auch für das Erlernen der Kirchen- und Volksliedern von uns Kindern verantwortlich. Es ging streng dabei zu. Wir mussten viele Texte auswendig singen können, und es war dafür viel Lernarbeit nötig. Ich persönlich habe ihr für den ersten Klavier- und Gesangsunterricht zu danken. Und auch Sprachübungen mit lateinischen Sätzen führte sie mit mir durch. Eine Zeit lang hatten meine Mutter und ich, besonders wegen meiner wohl nicht ganz schlechten Stimme die Hoffnung, dass ich im Thomanerchor in Leipzig aufgenommen werde. Sie hätte damit einen Esser weniger zu versorgen gehabt. Immerhin zwei Vorstellungen mit anfangs über 100 Bewerbern habe ich erfolgreich durchlaufen können.

Es reichte aber nicht aus und Herr Ramin, der damalige Kantor, entschuldigte sich schriftlich bei meiner Mutter für die zugesandte Absage!
Den Klavierunterricht übernahm dann ein Lehrer im benachbarten Dorf Morl, aber zum Üben durfte ich weiter in das Pfarrhaus kommen. Natürlich gab es auch Gegenleistungen, die ich gern und mit dem ganz natürlichen Stolz eines Jungen ausübte: Da war das Anbringen von Liednummern an den Stecktafeln vor den Gottesdiensten, damit die Gottesdienstbesucher informiert waren, welche Lieder und Strophen sie zu singen hatten Das war anfangs interessant, später langweilig und auch ärgerlich, da mir die Strophenzahlen häufig zu umfangreich erschienen, und ich sie manchmal absichtlich veränderte Natürlich konnte ich auch meine Neugier durch das Alleinsein in der Kirche stillen. Immer wollten wir Jungs wissen, was denn der Pfarrer in dem „Verschlag“ unter der Kanzel machte. Dorthinein verschwand er stets vor dem Beginn des Gottesdienstes und der Predigt, auch zeitweilig mittendrin.
Ich musste mir das natürlich ansehen und war recht enttäuscht, nur eine schmale, wenn auch gepolsterte Bank, einen Kleiderhaken mit allerlei Kitteln, ein kleines Brett mit weißen und farbigen Bändern und heiligen Büchern vorzufinden. Also brauchte er den Raum nur zum Verkleiden und sicher auch zum Nachlesen, um dann von der Kanzel auch das Richtige sagen zu können. Meine Schwester wollte auch Engel dort drin gesehen haben. Sie durfte immer im Krippenspiel zum Weihnachtsfest den Engel spielen und von der Kanzel herunter “Vom Himmel hoch...“ singen. Auch musste sie mir als auf den Stufen vor dem Altar liegenden Hirten, natürlich auch allen anderen, verkündigen, keine Angst haben zu müssen und uns und allen Anwesenden, den absoluten Frieden versprechen.
Ich fand das beruhigend, denn Angst hatte ich manchmal und holte dann meine Schwester, um mit mir zusammen den dunklen Weg z.B. durch das Dorf oder in unseren Tierstall zu gehen. Mutig übernahm ich etwa ab dem 9. Lebensjahr stellvertretend für den „berufenen Glockenläuter“ seine Aufgabe. Dafür erhielt ich einen großen Schlüssel für die alte Eingangstür zur Kirche. Dann musste ich die Treppe zu Empore hinaufsteigen, die Seitenempore bis zur nächsten Tür laufen (die war natürlich wesentlich kleiner), weitere Treppenstufen zum Kirchendachboden hinaufsteigen, über einen schmalen Brettersteg zu den Turmstufen balancieren, (der Dachboden sollte sehr morsche Abdeckungen besitzen „du darfst ja nicht daneben treten!“) und dann stand ich vor der Glocke. Das klingt alles etwas komisch, aber es war so. Denn damals wurde die Glocke so geläutet, dass man den Klöppel anfassen musste und mit einer Doppelbewegung, einmal zum Schwung holen und einmal zum Anschlagen an den Glockenmantel, einen kräftigen Ton zu erzeugen. Damit der Klang auch gut im Dorf gehört werden konnte, waren vorher die Holzläden an den Turmöffnungen aufzuklappen und am Ende des Läutens auch wieder zu schließen. Das war eine doch schon sehr verantwortungsvolle Aufgabe, und ich war stolz wie ein Schneekönig und meine Schulfreunde im Dorf sehr neidisch. Meine Sonderstellung verdrängte sicher meine Angst, denn man muss sich vorstellen, dass es ab der Empore kein Licht mehr gab und Gespenster kommen konnten. In den Wintermonaten durfte daher auch, ich meine heute zu wissen, um 4:oo abends geläutet werden.

Einmal versteckten sich zwei Jungs aus dem Dorf auf der Empore unter den dort stehenden Bänken (eine Treppe höher trauten sie sich gewiss nicht!) und haben mich beim Herabsteigen vom Turm durch gruselige Geräusche in Angst und Schrecken versetzt und sich dann diebisch über meine sehr auffällige Reaktion, worüber ich mich später noch sehr lange geschämt und geärgert habe, gefreut. Ein zweites Mal ist mir das nicht mehr passiert, da ich fortan die Kirchentür hinter mir verschlossen habe.
Ein aufregendes Ereignis konnte Sylbitz in den ersten Märztagen des Jahres 1947 verzeichnen. Auf dem Feld zwischen Beidersee und unserem Dorf fand man einen Toten. Er lag auf der noch vorhandenen Schneedecke und war angeblich erfroren. Man identifizierte ihn als den Lehrer Ernst Otto Murche, der als ehemaliger Soldat und Spätheimkehrer sein Heimatdorf wohl noch in der Nacht erreichen wollte. Sicher völlig übermüdet setzte er sich für kurze Zeit zum Ausruhen auf dem Feld nieder, schlief dort ein und erfror bei den offensichtlich noch stark winterlichen Temperaturen.
Nun wurde sein Sarg offen vor dem Altar in der Kirche aufgebahrt, und die Bewohner des Dorfes konnten von ihm Abschied nehmen. Aufgeregt sprach meine Mutter mit mir und verbot mir ein Betreten der Kirche. Es war natürlich eine verspätete Ermahnung, denn die Neugier von uns Jungs,- wir waren schließlich Schulkinder-, war viel größer, und wir gehörten auch zu den Dorfbewohnern Es war die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe. Am nächsten Tag ging ich neben dem Pfarrer stolz vor dem Trauerzug her und durfte das Kreuz mit dem Christus am Stab tragen. Das Geschehen hat mich lange sehr nachdenklich gestimmt.
Jahrzehnte später suchte ich auf dem Friedhof am Rande des Dorfes vergeblich genau die Stelle des Grabes.
Heiterer sind die Erlebnisse mit der kleinen Orgel der Kirche. Der „Kleine Pastor“ bediente sie leidenschaftlich und offensichtlich auch mit viel Temperament. Manchmal hörte man ihre Aufgeregtheit aus dem Klang der Töne, die nicht immer zusammenpassten, oder auch aus dem zu schnell einsetzenden Ende einer Melodie heraus. Letzteres konnte man als „zuständiger Helfer“ der Organistin mitbestimmen. Und das ging so: die Orgel ließ sich nur spielen, wenn die Pfeifen mit Luft versorgt wurden, und dafür war u.a. auch ich häufig zuständig. Auf der linken Seite der Orgel befand sich ein Holzbalken, der mit zwei Händen durch Auf- und Abbewegungen ein unsichtbares Luftkissen aufpumpen musste. Diese Arbeit verrichtete stets ein Schüler des Dorfes. Gleichzeitig war in unmittelbarer Nähe ein Schlitz mit einem Anzeigestift, aus dessen Stand ersichtlich war, wie groß der Luftvorrat für die Orgelspielerin war und wann ihr buchstäblich die Luft ausging. Letzteres hatten schließlich wir in der Hand, und das nutzten wir des Öfteren schamlos aus. Manchmal geschah das mitten in einem Lied, besonders dann, wenn wir der Meinung waren, dass die Zahl der gesungenen Strophen nun genug waren. Auch wenn wir auf der niedrigen Bank, vertieft in Gesprächen, nicht sahen, dass der „Große Pfarrer“ seine Predigt beendet hatte und der „Kleine“ „nach Luft lechzte“. Es hörte sich schrecklich an, wenn eine Melodie klagend zu versiegen drohte. Dennoch. Dieser Spaß wiederholte sich hin und wieder und sorgte immer wieder für Überraschungen und Ärger. Die Orgel war für die Kirche, die Gemeinde und für manch unterhaltsames Konzert sehr wichtig. Eine spaßige musikalische Aufführung von Buschs vertonten „Max und Moritz“ oder Hoffmanns Gruselgeschichten aus dem „Struwwelpeter“, gesungen von Frau Sonntag und meiner damals erst 38-jährigen Mutter, gehören auch zu schönen Erinnerungen.

Als ich 12 Jahre alt war, verließ unsere Familie Sylbitz.

Als 65-jähriger sah ich eine zerstörte Kirche. Es waren alle Fenster demoliert. Die Orgel war zertrümmert, Schutt und Unrat lagen im Kirchenschiff. Die Tränen standen mir bei diesem Anblick in den Augen.

Es ist einfach ein Wunder, was der kleine Verein zur Restaurierung der Kirche in wenigen Jahren bis heute geleistet hat. Dankbar und anerkennend kann ich dieses Ergebnis nur kurz und knapp bestaunen.
 

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Inhalt: Dirk Höhne
Gestaltung: Jörg Wicke